Gedenkstein am Massengrab von 900 getöteten Jüdinnen und Juden an der Straße Ulitsa Biryuzova am Stadtrand von Klimovichi, errichtet in den 1950er Jahren von Angehörigen der Opfer.

Foto: Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Michael „Shmuel“ Ryvkin

Klimowitsch 

Thorsten Stoye – Bandleitung bei „Die letzten fünf Jahre“

Im ersten Akt erzählt Jamie die Geschichte von Schmuel, einem jüdischen Schneider aus Klimowitsch, der durch den Zauber seiner Wanduhr unendlich viel Zeit erhält, um das schönste Kleid zu nähen, das je von einem Schneider erschaffen wurde.

Schon beim ersten Lesen des Textes von „Die letzten 5 Jahre” habe ich mich gefragt, warum in diesem Werk mehrfach darauf hingewiesen wird, dass Jamie jüdischer Abstammung ist, obwohl dies auf den ersten Blick für die Handlung des Stücks irrelevant zu sein scheint. Der Autor Jason Robert Brown befasst sich in seinen Werken öfters mit der jüdischen Kultur, aber was genau ist sein Bezug zu einem fiktiven Schneider einer osteuropäischen Kleinstadt? Und wo liegt Klimowitsch eigentlich genau?

Ich habe ein wenig nach dem Hintergrund von Schmuel, dem Schneider von Klimowitsch recherchiert: Die Kleinstadt Klimowitsch (je nach Übersetzung auch unter dem Namen Klimowitschi, Klimowitschy, Klimawitschi) findet ihre erste namentliche Erwähnung im Jahre 1581. Das Stadtwappen zeigt eine goldene Biene auf blauem Hintergrund, als Symbol für Klimowitschis Reichtum an Honig. Klimowitschi befindet sich im Osten von Belarus, in Weißrussland, 20 km von der russischen Grenze entfernt. Seit dem 18. Jahrhundert siedelten sich hier auch Personen jüdischer Herkunft an. Die Zusiedlung nahm bis zum Jahrhundertende zu und fand ihren Höhepunkt im Zeitraum von etwa 1900 bis zur russischen Revolution. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg war Klimowitschi von etwa 9600 Menschen bewohnt, von denen gut 2600 jüdischen Glaubens waren.

Klimowitschi galt Anfang des 20. Jahrhunderts als eine der ärmsten Städte der Provinz. Nur sein im Jahr 1872 angelegter Stadtpark sei „so schön, dass er sogar das nahegelegene Minsk zieren könnte” (1), wie ein zeitgenössischer Poet schrieb. Jüdische Personen arbeiteten hier um die Jahrhundertwende in allen erdenklichen Handwerken: sie waren Schuhmacher, Schneider, Schlachter, Kutscher, Händler und Gerber. Die meisten Schmiede Klimowitschis waren jüdischen Glaubens, und „wenn man sie fragte, was das Geheimnis ihrer Muskulosität sei, so antworteten sie, „das komme daher, dass sie sich koscher ernährten”(1).

Trotz Fleiß und Können lebten diese Handwerker in eher bescheidenen Verhältnissen. Und so stellen wir uns auch Schmuel vor, den Schneider von Klimowitsch: bescheiden lebend, aber fleißig und mit großem handwerklichem Können ausgestattet, pragmatisch denkend und nicht allzu sehr in Träumen von einem besseren Leben schwelgend, sondern fest etabliert im Hier und Jetzt: Schmuel saß fleißig, Tag für Tag in seiner Schneiderei in Klimowitsch. Pünktlich um sechs beim Glockenschlag bis um zehn Uhr in der Nacht. Schon vierzig Jahre nähte er in der Schneiderei in Klimowitsch. Schimpfte den Wintern hinterher und hat eines oft gedacht:

„Hätte ich nur die Zeit”, so sagte er, „machte ich ein Kleid, das schöner wär als alle Kleider, die je ein Schneider genäht von hier bis Minsk.“ (2)

Die deutsche Wehrmacht besetzte die Stadt am 10. August 1941. Einigen wenigen jüdischen Personen gelang zuvor die Flucht. Knapp 1700 weitere befanden sich zu der Zeit noch in Klimowitschi. In meiner Vorstellung mag Schmuel vielleicht um die Jahrhundertwende mit seiner Arbeit in der Schneiderei in Klimowitschi begonnen haben und hat damit wie so viele andere Handwerker jüdischer Herkunft vor der russischen Revolution hier seine handwerkliche Existenz gegründet (1). „Schon vierzig Jahre nähte er in der Schneiderei in Klimowitsch.” – also hätte Schmuel die deutschen Besatzer vielleicht erlebt?

Als die Wehrmacht im Oktober 1943 aus Klimowitschi abrückte, hatten hier nur 14 jüdische Personen die Massaker überlebt, versteckt von der nichtjüdischen Bevölkerung. Die traurige Geschichte der jüdischen Gemeinde von Klimowitschi wurde von einem aus dem Ort stammenden und in Leningrad lebenden Historiker in zahlreichen Forschungsreisen zwischen 1986 bis 1989 erfasst und niedergeschrieben. Ich bin überzeugt davon, dass sich der Autor dieses Musicals, Jason Robert Brown, von diesen Berichten hat inspirieren lassen. Der Name des Historikers ist Shmuel Ryvkin.

Von Donnerstag bis Sonntag habt ihr noch die Möglichkeit, „Die letzten fünf Jahre“ live in der GuGs in Pinneberg zu sehen. Wir freuen uns auf euch!

1 „HOW IT HAPPENED IN KLIMOVICHI“ Forschungsbericht von Shmuel Ryvkin:https://www.jewishgen.org/yizkor/Klimavichy/files/Klimavichy_English.pdf

2 „THE LAST FIVE YEARS“ – Text und Musik von Jason Robert Brown, Übersetzung von Wolfgang Adenberg